S-Bahn fahren macht keinen Spaß mehr. Bei S-Bahnfahrten wird man mit Elend konfrontiert, dem man sich sonst gerne entzieht. So letztens in Mitte. Am Hauptbahnhof steigen zwei Jungen zu, die um diese Tageszeit definitiv in der Schule sein müssten. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt mit Betteln. Der eine malträtiert eine alte Ziehharmonika, der andere läuft mit großen Augen hinter dem älteren Begleiter her. Die beiden sehen erschöpft aus.
Stumm wird der Hut herumgereicht, kaum jemand gibt etwas. Ob die Kinder Deutsch können? Wir werden es nicht erfahren. Die meisten Fahrgäste blicken angestrengt aus dem Fenster oder beschäftigen sich mit ihren Mobiltelefonen. Eine junge Frau, offenbar Studentin, kann ihren Zorn jedoch kaum verhehlen. “Kann ja wohl nicht sein, dass sich niemand für diese Kinder interessiert.” Dann murmelt sie noch etwas von Bildungschancen, auf die jeder in diesem elenden Land ein Recht habe, mit oder ohne deutschem Pass.
2,5 Millionen Kinder sind in Deutschland arm, so das Ergebnis einer Studie, die das Deutsche Kinderhilfswerk heute veröffentlicht hat. Jeder sechste Minderjährige also. Das Absurde: Während sich die Konjunktur inzwischen wieder erholt hat, wächst die Kinderarmut weiter. Es gehe nicht in erster Linie um Geld, sagte Thomas Krüger, Präsident des Deutschen Kinderhilfswerks, im Deutschlandfunk. Es seien vor allem fehlende Bildungschancen, die die Gefahr einer wachsenden Gruppe verschärfen, gesellschaftlich weiter abgehängt zu werden. Von gesundheitlichen und psychosozialen Auswirkungen ganz zu schweigen.
Doch zurück zu den Kindern aus der S-Bahn. Für junge Europäer, die mit einem Touristenvisum einreisen, fühlt sich keine deutsche Schulbehörde zuständig und offenbar auch die Polizei und das Ordnungsamt nicht. Das Desinteresse für diese Sinti- und Roma-Kinder generell sei vor allem auf den Aufenthaltsstatus zurückzuführen, schreiben Autoren einer neueren Unicef-Studie. Sie hatten die Lage von Sinti- und Roma-Kindern in Deutschland untersucht. Vor dem Beitritt von Rumänien zur Europäischen Union wurden Angehörige dieser Gruppe vor allem als Flüchtlinge wahrgenommen, die nur “vorübergehend” geduldet wurden. In Berlin leben offenbar an die 600 Roma mit Flüchtlingsstatus.
Durch die Mitgliedschaft Rumäniens wird die Situation noch komplexer, da neben gut Integrierten (die öffentlich kaum wahrgenommen werden) und Flüchtlingen nun eine weitere Gruppe hinzukommt, die nur kurze Zeit bleibt. In der Hoffnung, Geld zu verdienen. Was also tun, um diesen Kindern dennoch ihr Recht auf Bildung nicht vorzuenthalten? Eine differenzierte Regelung auf europäischer Ebene muss her, soviel ist sicher. Bis die allerdings ausgehandelt ist, dürften die Kinder aus der S-Bahn schon mehrere Tausend Kilometer durch Berlin gekurvt sein, und viel Grundlegendes verpasst haben.
Von professionellem Musikunterricht können sie ohnehin nur träumen, egal wie groß ihr Talent auch sein mag. Welche engagierten Eltern in Prenzlauer Berg verzichten schon auf einen der heiß umkämpften Plätze für musikalische Früherziehung, zugunsten eines “vorübergehend” hier lebenden rumänischen Kindes? Vergeben Musikschulen eigentlich Stipendien?
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