Großer “Coup der BRD” und “Silberlinge für Ungarn” – an diesen Artikel in der Tageszeitung Neues Deutschland (ND) muss ich am Franz-Mehring-Platz in Friedrichshain hin und wieder denken, wenn die großen Lettern auf dem Hochhausdach zwischen den Plattenbauten auftauchen. Ein Rentner hatte mir einige Wendezeit-Ausgaben aus seinem ND-Archiv geliehen. Wie er über den Massenexodus von DDR-Bürgern in den Westen dachte, war klar: Die Partei hat immer Recht, heute mehr denn je.
Inzwischen ist auch das ehemalige SED-Zentralorgan auflagenabhängig und auf der Suche nach neuen Lesern. Manches Autorenstück berichtet links aber undogmatisch über Lateinamerika und wäre kaum anderswo zu lesen gewesen. Wie die großen Hauptstadt-Blätter veranstaltet auch das ND Podiumsdiskussionen und Matineen. Anfang Oktober gibt es etwa eine Veranstaltung, auf der Honecker-Nachfolger Egon Krenz die Justiz im Arbeiter- und Bauernstaat mit der “BRD” vergleicht. Der Eintritt ist umsonst. Auf der neu gestalteten Webseite werden zudem kostenlose Englischkurse beworben – eine Weltsprache, an der man kaum vorbeikomme.
1993 zog die Redaktion an den Ostbahnhof und kehrte vor zwei Jahren wieder zurück an die alte Adresse. Dort liegen auf den Gehwegen noch die alten quadratischen Platten aus den 70er Jahren. Ein paar Straßenecken weiter hat vor kurzem Deutschlands erster seniorenfreundlicher Supermarkt eröffnet und bereichert den Kiez mit breiten Gängen und Lupen für kleingedruckte Preisschilder.
Damit wären wir zurück bei dem linientreuen Rentner mit dem ND-Archiv. Gelingt es der Zeitung, die 1987 in einer einzigen Ausgabe gleich 41 Mal das Foto von Erich Honecker abdruckte, auch jüngere Leser zu erreichen? Will sie künftig im sozialdemokratischen Mainstream schwimmen? “Wir sind eine [...] Zeitung mit einer Themenpalette wie alle anderen”, sagt Chefredakteur Reents. Mit einer Kolumne “heute vor 50 Jahren im ND” dürfte sich das Blatt aber noch einige Jahrzehnte zurückhalten.
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