Kieze und Kieze

Der Kiez ist etwas Gewachsenes, soviel steht fest. Wer sich mit Leuten unterhält, die schon länger nicht mehr umgezogen sind, lernt schnell: da ist Bewegung im Spiel, der Kiez entwickelt sich ständig weiter, Kiez ist Wandel. “In dem Altbau gab’s mal eine Kneipe mit Vokü, die hat nach dem Brand des Hauses dicht gemacht”, erzählt J. mit Bedauern. Später kamen Leute, die so gar nicht kiezig waren, Zugezogene aus Wessiland, wie ein Freund abschätzig bemerkte.

Auf einer Party in Berlin-Weißensee: Die Frage nach dem Kiez führt uns direkt in den hippen angrenzenden Stadtteil Prenzlauer Berg. In Weißensee sucht man den Kiez vergeblich, trotz Altbaubestand: industrielle Öde prägt das Stadtbild und das blau-gelbe Schild des Discounters Lidl wirkt geradezu wie ein letzter visueller Anker, der chronisch traurige Zeitgenossen auf andere Gedanken bringen könnte. Einer Frau aus Polen fällt dann sofort der LSD-Kiez ein. Der sei ihr ans Herz gewachsen, obwohl sie mit dem Begriff Kiez zunächst nichts anfangen konnte. LSD steht für Lychener-, Stargarder- und Dunckerstraße, Insider wissen das sofort. Aus dem Kontext gerissen muss einen Neuberliner die Frage nach einer Verabredung im LSD-Kiez natürlich verunsichern. Wer denkt schon an Prenzlauer Berg, den wahrscheinlich kinderreichsten Stadtteil Deutschlands?

Etwas anders sieht es momentan in Friedrichshain aus. Dort werden Anwohner mehr oder weniger unfreiwillig zu Zeugen eines raschen sozialen und baulichen Wandels, Stadtsoziologen sprechen von Gentrification: “Plötzlich kam der Kiez zu uns”, erzählt C., die in der Boxhagener Straße wohnt und das Phänomen der schleichenden Aufwertung des Stadtteils auf den Punkt bringt. Zuerst kamen die Studenten und Hausbesetzer, dann eine zahlungskräftigere Klientel. Neue Läden schossen wie Pilze aus dem Boden, längst ist das Viertel rund um die Simon-Dach-Straße zur neuen Ausgehmeile geworden. Zum Ärger der Anwohner, die günstige Mieten schick-prolligen Clubs und Cafés vorziehen. Der Simon-Dach-Kiez ist offenbar nicht allen Alt-Berlinern anderer Stadtteile ein Begriff. Ein wachsender Kiez, der auch bei Wikipedia bislang nicht gelistet, für die dort lebenden Menschen aber längst Realität ist.

Stellt sich noch die Frage nach Verdrängungsmechanismen: Ein neuer Kiez entsteht, ohne dass alte verschwinden? Ein Bedeutungsverlust eines Kiezes scheint nicht gleich mit einem Verlust seines Status als “Kiez” einhergehen zu müssen. Ein Kiez lebt so lange, wie sich die Anwohner mit ihm identifizieren. Kiez-Bewusstsein gehört in Berlin unbedingt dazu, auch wenn es sich vielfach um eine temporäre Verbundenheit mit einem bestimmten Straßenzug innerhalb eines Stadtteils handelt.

No-Go Kiez. “Es gibt Kieze, in die ich nie ziehen würde”, meint S., ohne diese Aussage zu konkretisieren. Mir fällt mein eigener Kiez ein, der Schillerkiez in Neukölln. Kann nicht gerade behaupten, dass ich eine große emotionale Bindung zu dieser Nachbarschaft entwickelt hätte, ich werde wohl ein Zaungast auf Zeit bleiben. So lange halte ich aber die Neukölln-Fahne hoch, freue mich über engagierte Versuche lokaler Projekte und des Quartiersmanagements, den Stadtteil trotz all seiner Probleme erträglich zu machen. Alles eine Frage der Zeit mit dem Kiez.

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2 Responses to “Kieze und Kieze”


  1. 1 foo Jun 20th, 2007 at 12:46

    Die Storkower ist aber n bisschen weit weg, um als Grenze fuer den LSD-Kiez zu fungieren. LSD -> Lychener, Stargarder, Duncker; nach alternativer Interpretation auch Lychener, Schliemann, Duncker.

  2. 2 Anne Grieger Jun 20th, 2007 at 13:31

    Danke für den Hinweis Foo, natürlich Stargarder..
    Hab’s geändert!

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