Tag Archiv für 'kiez'

Im Kiez wird geplündert

Kleiderbox in der Liebigstraße - Foto: Henning Onken

Schon wieder ist dieser Altkleidercontainer in der Liebigstraße umgekippt und geplündert worden. Zerschlissene Jeans, Pullover aus den 70er Jahren und ein Paar Pumps, die meiner Großmutter hätten gehören können, liegen verstreut darum herum.

Wer tut so etwas? Kinder ohne Taschengeld? Jugendliche, die hoffen, ein seltenes T-Shirt von Nike zu finden? Oder Punks, die gleich noch ein paar Löcher mehr in die kaputte Hose schneiden? Wahrscheinlich haben sich hier Menschen bedient, die unter dem Radar unserer Versorgungssysteme leben und das Plündern von Containern gewohnt sind. Hinter vielen Supermärkten etwa stehen unverschlossene Behälter mit Lebensmitteln, die oft noch gut essbar sind.

Es sieht jedenfalls ganz so aus, als wolle der Kiez diese Klamotten nicht hergeben. Vielleicht würde es helfen, wenn hier ein Regal aufgestellt würde, aus dem sich die Nachbarschaft offen bedienen kann. An einigen Stellen in Berlin gibt es bereits diese “Freeboxen”, wie etwa in der Schliemannstraße in Prenzlauer Berg oder vor dem linksalternativen Wohn- und Kulturprojekt Köpi in der Köpenicker Straße in Friedrichshain. Problem ist hier allerdings, dass diese Art Kieztausch-Projekte ohne helfende Hände leicht als Entsorgungsstellen missbraucht werden - also mit Dingen zugemüllt werden, wirklich niemand mehr haben will.

Umsonstbox in der Schliemannstraße - Foto: Henning Onken

In Berlin konkurrieren mehrere Organisationen um alte Textilien, deren Entsorgung im Hausmüll verboten ist. Humana stellt seit 1990 Container vor Supermärkten und Wohnhäusern auf, gilt jedoch als umstritten. Kritiker unterstellen dem “Imperium der Kleidersammler” Nähe zu einer Sekte. Inzwischen unterhält Humana auch mehrere große Second-Hand-Läden in Berlin. Mit Containern vor Supermärkten ist auch die Firma Contex präsent, die auf eine “gewerbsmäßige Erfassung” ihrer Sammlung aufmerksam macht. Das Deutsche Rote Kreuz verteilt Kleiderspenden an Obdachlose oder bringt die Textilien in Katastrophengebiete.

Treptow und die Hunde

Originelle Erziehungsmaßnahmen hin oder her - ich wollte nichts mehr über Hunde und ihre Hinterlassenschaften schreiben, weil das Thema in Berlin nicht gerade Neuigkeitswert besitzt. Von Moabit über Mitte und Friedrichshain bis nach Neukölln - überall setzen sich Anwohnerinitiativen und das Quartiersmanagement für saubere Straßen ein.

“Wenn du der Hundekacke den Kampf ansagst, hättest du in der Friedrichshainer CDU gute Chancen auf einem vorderen Listenplatz”, meinte ein Freund, der sich mit der Situation in seinem Stadtteil arrangiert hat. Toleranz gegenüber Hundehaltern sei insofern wichtig, als sie Verbündete seien: Die Mieten blieben billig in Kiezen, in denen Hundehaufen auf der Straße liegen bleiben. “Die oberen Zehntausend ziehen nicht dorthin.”

However. Anders in der Lohmühlenstraße in Treptow: Die Botschaft der Anwohner ist klar - von wem genau die Initiative mit den Hundemist-Beuteln am Zaun jedoch ausgeht, allerdings weniger. Nirgends ein Bekennerschreiben.

Es kämen jedenfalls diese

oder diese Anwohner in Frage…

Beiden wäre es zuzutrauen. Vielleicht rückt die Nachbarschaft auch enger zusammen - vereint durch ein gemeinsames Projekt.

“Kiez ist Ansichtssache”

Illustration: Annette Köhn (verantw.)

Die Kulturszene in Neukölln nimmt immer mehr Gestalt an, leider ein bisschen auf Kosten der Übersichtlichkeit, wie es scheint. Wenn am Freitag wieder das Kunst- und Kulturfestival 48 Stunden Neukölln beginnt, dürfte es für Außenstehende schwer werden, sich angesichts der vielen Veranstaltungsorte zu orientieren. Tanzaufführungen, Konzerte und interaktive Kunstaktionen finden im gesamten Stadtteil statt.

Für den Reuter-Kiez gibt es jetzt eine Karthografie, einen künstlerischen Stadtplan. Die Initiatorin des Projekts, Annette Köhn, hat Künstler, Grafiker und Bürger ermuntert, ihre Sicht auf den Kiez festzuhalten: Spielplätze, Hinterhöfe, Läden oder Fassaden. Einige der Originalbilder werden am Samstag im Rahmen des Festivals in der Musenstube gezeigt, andere können interessierte (Wahl-)Neuköllner als Reproduktionen an Bäumen und Laternen wiederfinden.

Kieze und Kieze

Der Kiez ist etwas Gewachsenes, soviel steht fest. Wer sich mit Leuten unterhält, die schon länger nicht mehr umgezogen sind, lernt schnell: da ist Bewegung im Spiel, der Kiez entwickelt sich ständig weiter, Kiez ist Wandel. “In dem Altbau gab’s mal eine Kneipe mit Vokü, die hat nach dem Brand des Hauses dicht gemacht”, erzählt J. mit Bedauern. Später kamen Leute, die so gar nicht kiezig waren, Zugezogene aus Wessiland, wie ein Freund abschätzig bemerkte.

Auf einer Party in Berlin-Weißensee: Die Frage nach dem Kiez führt uns direkt in den hippen angrenzenden Stadtteil Prenzlauer Berg. In Weißensee sucht man den Kiez vergeblich, trotz Altbaubestand: industrielle Öde prägt das Stadtbild und das blau-gelbe Schild des Discounters Lidl wirkt geradezu wie ein letzter visueller Anker, der chronisch traurige Zeitgenossen auf andere Gedanken bringen könnte. Einer Frau aus Polen fällt dann sofort der LSD-Kiez ein. Der sei ihr ans Herz gewachsen, obwohl sie mit dem Begriff Kiez zunächst nichts anfangen konnte. LSD steht für Lychener-, Stargarder- und Dunckerstraße, Insider wissen das sofort. Aus dem Kontext gerissen muss einen Neuberliner die Frage nach einer Verabredung im LSD-Kiez natürlich verunsichern. Wer denkt schon an Prenzlauer Berg, den wahrscheinlich kinderreichsten Stadtteil Deutschlands? hier geht’s weiter mit ‘Kieze und Kieze’

Einwürfe aus der Provinz: Kennen Sie Kiez?

Foto: Christian HeteyIch habe ein paar Jahre in Hamburg gelebt. Da gibt es den Kiez. Das ist die Reeperbahn und alles, was sich im direkten Umfeld befindet. Eine Sammlung fragwürdiger Kaschemmen, abgerockter Touristenfallen, aggressiv-stupider Atmosphäre und dem unvermeidlichen Hamburger Berg. Dort sind viele tolle Kneipen, in denen man als Gast die Wahl hat zwischen kickern mit Soulmusik, Tischfußball und Funk oder Tippkick mit dem Best Of aus Funk und Soul. Dazu säuft man hanseatisches Billigbier, ein widerliches Gebräu, das einem regelmäßig die ganz private After Hour am nächsten Tag zünftig versüßt. Das Ganze ist also nur interessant für die Praktikanten der Werbeagenturen, Designstudenten oder ähnlich erlebnisorientierte Hools & Vaddis aus Uelzen und Co. Der Begriff Kiez bekommt hier seine Füllung: irgendwie vorhanden, eher eklig und nach Möglichkeit meiden.

Ganz anders sieht es in Berlin aus: als ich das letzte Mal die behütete Umgebung der Provinz mit einem Berlinbesuch getauscht habe, da war auf einmal alles Kiez. Wrangel-, Reuter-, Tralalakiez. Kiez as Kiez can. In Kiez A waren wir auf einer stinklangweilig-ordinären Ich-AG-Hobbykunsthandwerkveranstaltung für die Jüngeren im Lido, in Kiez B auf dem netten Schiff mit dem bescheuerten Namen und in Kiez C auf einer unglaublich hippen Party ohne größere Höhepunkte und DJ Mottenkugel. Nun fühlte sich das aber alles ähnlich bemüht bis substanzlos an, nett eben. Sah auch alles recht ähnlich aus. Trotz unterschiedlicher Kieze.

Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann bezeichnet Kiez ein von bestimmten Straßen oder besonderen Orten eingefaßtes Berliner Areal. Den Namen dieser Region kann man dann schön auf Flyer malen oder sonstwie identitätsstiftend verwenden? Ist das der Keim eines neuen Lokalpatriotismus? Geht man nicht aus Sindelfingen und Wilhelmshaven nach Berlin, um die Enge und Begrenztheit der Provinz hinter sich zu lassen in der Weltstadt? Gibt es Kiezophrenie? Kann man kietzelig sein? Wer erklärt mir diesen Begriff und den darin für mich als Provinz-Westler offensichtlich verborgenen way-of-life?

Bedankt.

Mario Filsinger
Der Fragesteller lebt und arbeitet als Medienproletarier in der tiefsten Provinz.
Foto: Christian Hetey

Vernageltes Deutsches Haus

Am Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg entsteht eine Moschee, das wissen die meisten. Doch wer sich auf der Baustelle näher umsieht, entdeckt direkt daneben dieses seltsame “Hotel Deutsches Haus”. Die Fenster sind von innen mit Spanplatten vernagelt, die Tür verrammelt. Wie lange mag das Gebäude schon leerstehen?

Vielleicht hat der Hotelier keine Zukunft mehr an diesem Platz gesehen, als 1987 am Tag der berüchtigten Mai-Krawalle nebenan der Bolle-Markt ausbrannte. “Übernachten Sie bei uns im Deutschen Haus, mit Ausblick auf eine Supermarkt-Ruine” hätte als Werbung wohl nur wenige Gäste gelockt. Möglicherweise ist der Fremdenverkehr in diesem Quartier aber auch langsam gestorben, ganz ohne den Randale-Zusammenhang. Was denkt überhaupt ein Tourist, der auf der Zimmersuche unsicher durch Kreuzberg kurvt und vor einem “Deutschen Haus” stehen bleibt? Die Zimmer sind ordentlich, die Bettwäsche sauber und an der Rezeption bekommt jeder Gast erstmal eine Nummer?

Irgendwie passt dieses leere vor sich hin rottende Hotel ganz gut ins Bild. Es könnte sinnbildlich für alle Deutschen stehen, die wegschauen und Türen und Fenster verriegeln, wenn die große Moschee nebenan demnächst Eröffnung feiert. Aber zugegeben: Dieses Milieu gibt es hier nicht mehr, es kommt nicht mal zu Besuch. Wenn sich jemand über das “Maschari Center” aufregt, dann kommt er kaum aus dem Kiez.

1. Mai: Die Spur der Steine

PflastersteineAn diesem schönen Tag sind wir aufs Dach geklettert und spielen Schach, als unten langsam eine “Wanne” vorbeirattert. “Früher haben die noch ihre Dachluken zugemacht, als sie durch den Kiez fuhren”, erzählt ein Freund nachdenklich. Und so zerbeult wie damals sind die neuen Mannschaftstransporter der Berliner Polizei auch nicht.

Eine Woche vor dem 1. Mai deutet wenig auf die anschwellende Wut hin, die fast jedes Jahr zusammen mit dem Frühling erwacht und - wie vor 20 Jahren - einen ganzen Stadtteil in ein Schlachtfeld aus brennenden Autos, geplünderten Geschäften und vermummten Kämpfern auf beiden Seiten verwandeln kann. Da wollen Leute leben, um etwas zu erleben, könnte man böse sagen, oder: sie wollen leben, um etwas zu verändern. Jedenfalls ist diese Art von Energie- und Ladungsaustausch zwischen Polizei und gewissen Menschenansammlungen seit dem Auftakt vor 20 Jahren auch in Friedrichshain zu einer Begleiterscheinung des “Kapuzenkarnevals” geworden. Auch im letzten Jahr flogen den Beamten wieder Steine und Flaschen um die Ohren, wenn auch weniger als an den Maydays der Vorjahre. Ein paar umgekippte Autos, eine zerstörte Bushaltestelle - die Bilanz-Pressekonferenzen des Senats wurden kürzer. hier geht’s weiter mit ‘1. Mai: Die Spur der Steine’



Fenster zum Hof basiert auf WordPress, Triple K2 und Anpassungen von Henning Onken
RSS Artikel und RSS Echos