Prekäres Paradies

Nichts für Zimperliche: Präparierte Käfer, Käfer aus Pappmaché, Biene-Maja-Audiokassetten. In einem Ladenlokal im Neuköllner Reuter-Kiez hat sich Inox Kapell eingerichtet, der seit seiner Kindheit ein Faible für alles Krabbelnde hat. Insekteum hat er seinen Laden mit Retro-Trödel genannt, in dem er neben präparierten Insekten und eigenen kleinen Kunstwerken von Plattenspielern, Damensonnenbrillen bis hin zu alten Schuhen alles verkauft, was er in den letzten Jahren angesammelt hat. “Alles muss raus”, sagt ein junger Mann mit langem Zopf, der etwas träge auf einem alten Dreisitzer sitzt und den Ladenbetreiber vertritt. Aus dem Kellerraum, in dem mehrmals monatlich performances - “happenings mit musikschrillschoh” - stattfinden, schallt diesmal “The Velvet Underground”. Das Insekteum ist wie viele der neuen Läden und Galerien im Reuter-Kiez kein Projekt von Dauer. Wenn der Vermieter einen zahlungskräftigeren Nutzer für die etwas heruntergewirtschaftete Wohnung findet, muss das schräge Käferreich kurzfristig aufgelöst werden.
Oder der Zwischennutzer zahlt mehr. Das Konzept der Zwischennutzung ist für viele Kreative eine Chance, ohne große finanzielle Risiken ein neues Projekt zu starten. Leer stehende Räumlichkeiten können für einen begrenzten Zeitraum als Probelauf für eine neue Geschäftsidee genutzt werden, und danach gegebenenfalls dauerhaft angemietet werden. Auch die Anmietung eines Gebäudes für eines kürzeren Projekts ist möglich, etwa für Filmarbeiten. Oder eine Interimsnutzung, bis ein neuer Mieter gefunden wird. Seit das Quartiersmanagement im Reuter-Kiez dieses Pilot-Projekt ins Leben rief, und eigens eine Zwischennutzungsagentur dafür einrichtete, scheint sich der Kiez zwar gewandelt zu haben: In Straßen, in denen es sonst nur Kohlehändler und türkische Männercafés gab, haben Galerien eröffnet und Künstler Ateliers eingerichtet. Ein neuer Name für das Viertel zwischen Sonnenallee, Maybachufer und Kottbusser Damm sorgte schnell für Schlagzeilen: “Kreuzkölln” - das andere Neukölln.

Aufwertung des Stadtteils?

Viele der neuen Ladenbetreiber leben aber weiterhin in prekären Verhältnissen. Die geringen Kosten für die Räumlichkeiten - ob zwischengenutzt oder regulär angemietet - können kaum darüber hinweg täuschen, dass viele der Kreativen von Kunst allein nicht leben können. Auch dann nicht, wenn etwa im Falle von Zwischennutzungen manchmal neben Betriebskosten lediglich Kosten für die Renovierung des Objekts anfallen. Daniela Reifenrath, die selbst keine Zwischennutzerin ist, und in der Friedelstraße die Malerei & Graphik-Galerie auf eigene Rechnung betreibt, lebt von der Hand in den Mund. Wie viele der anderen Galeristen müsse sie sich auch bald um Fördergelder bemühen, so die diplomierte Architektin. Noch lebt Reifenrath von Ersparnissen aus Kellnerjobs. In ihrem erlernten Beruf hat die 37-jährige nie gearbeitet - keine Chance angesichts der Beschäftigungssituation in der Branche. Mit der Galerie hat sie sich einen Traum erfüllt, der im Kiez jedoch nicht uneingeschränkt positiv aufgenommen wurde. “Viele fanden die Idee super, mir wurde aber auch schon vorgeworfen, durch meine Galerie die Mieten in der Straße in die Höhe zu treiben“, sagt Reifenrath.

Christof Husemann von der Galerie Kloetze und Schinken spricht ebenfalls von “Gentrification”: der Gefahr, dass durch die Aufwertung eines Stadtteils die Mieten steigen, und Haushalte mit geringen Einkommen weiter unter die Räder geraten könnten. Für Künstler, die angesichts des wenig kaufkräftigen Umfelds oft weiterhin auf Unterstützung durch das Jobcenter angewiesen sind, auch nicht gerade von Vorteil. “Ich glaube nicht, dass Neukölln zu einem In-Kiez wird”, sagt Husemann, der zunächst Räume über die Zwischennutzungsagentur vermittelt bekam, inzwischen aber ein paar Häuser weiter regulär ein Ladenlokal angemietet hat. Das Publikum werde sich trotz höherer Mietpreise kaum verändern, der Bezirk ein Arbeiterbezirk mit hohem Ausländeranteil bleiben. Und damit für junge Familien wenig attraktiv. Husemanns Mitstreiterin Signe Villadsen ist extra wegen der günstigen Miete in die Galerie in der Bürknerstraße mit eingestiegen. In Prenzlauer Berg war die Miete unbezahlbar – obwohl es dort für den Laden mit Accessoires, Selbstgebasteltem und Kunst eher Kunden gab als in Neukölln.

Trotzdem: Das Projekt der Zwischennutzung und die günstigen Mieten im Kiez seien eine Chance für Künstler und Galeristen, meint Daniela Reifenrath, “mit oder ohne Hartz IV”. Immerhin habe man etwas Sinnvolles zu tun. Schon nachmittags um drei in der Sonne Bier zu trinken, sei schließlich keine Alternative.

Für das Konzept des Insekteums ist das gute Wetter essentiell: Bei warmen Temperaturen vermehren sich Insekten bekanntlich schneller, und für den 29. April ist eine Insektenführung durch den Kiez geplant. Eine Veranstaltung, die nicht nur für Freunde des Happenings interessant sein dürfte, sondern auch für Teilnehmer wie den achtjährigen Jungen aus dem Nachbarhaus. Der ist ein alter Bekannter und verkauft dem Laden regelmäßig gebrauchte Sonnenbrillen. Meist solche, mit denen Frauen aussehen, als hätten sie Facettenaugen.

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